Das Fünfte Gebot

DU SOLLST NICHT TÖTEN.

Die großen Erzählungen berichten seit frühester Zeit von Mord und Totschlag – vom Brudermord im Buch Genesis über die homerischen Epen und die antiken Tragödien bishin in die menschlichen Abgründe der Gegenwartsliteratur. Auch wenn der Mord im Boom der Krimis bisweilen zum schaurig-lustvollem Faszinosum verkommt, bleibt die Gewalt in der Auslöschung des Lebens ein Menetekel, das zum Nachdenken über Verbrechen und Strafe, über Schuld und Sühne zwingt. Das Fünfte Gebot ist aus der Literatur nicht wegzudenken. Es provoziert auch heute zur literarischen Auseinandersetzung.

Für das DEKALOG-Projekt suchen zeitgenössische Autoren eigene Zugänge zu den biblischen Geboten und kommen zu überraschenden Antworten.

21. Mai 2015 um 19.30 Uhr

»Und seht, da war es noch nicht Nacht, da sah die Welt die Folgen schon«

Es lasen: Rabea Edel | Michael Lentz

Moderation: Pater Dr. Hermann Breulmann SJ

Auszug aus Stimmen und Gebiete von Rabea Edel:

Sie haben die Körper einzeln aus dem Schlamm gezogen und in einer Reihe zum Trocknen an der Wasserkante aufgereiht. Es ist noch früh am Morgen, der einundzwanzigste Tag unserer Erkundungen, das Meer verdaut die frischen Wassermassen der Nacht und spuckt Körper aus. Über dem Strand hängt ein Schleier, der sich nicht hebt. Immer wieder tauchen Köpfe in den Wellen auf, einzelne Gliedmaßen, dann so etwas wie ein Mensch, durchsichtig noch, kaum auszumachen in der Ferne und nicht zu unterscheiden von den Wassergeistern, die die Wellen tragen. »Erst wenn sie in Kontakt mit dem Strand kommen, werden sie zu Körpern«, sagen sie. Sie haben noch in der Nacht begonnen, als die Scheinwerfer der Sicherheitstürme über das Wasser wanderten. »Bei Neumond versuchen sie anzulanden, da ist es dunkler«, sagen sie, »auch die, die nicht schwimmen können, bauen sich Boote. Aneinander genagelte Bretter. Sie trainieren die Luft anzuhalten und sich flach wie ein Stück Holz zu machen, das auf den Wellen treibt. Sie waschen sich mit Salz«, sagen sie, »und trinken das Meer, bevor sie darin umkommen«. Das Wasser ist grau nach dieser Nacht. »Es ist müde«, sagen sie, »aber es hat einen langen Atem.« Ich höre ihnen zu, ich höre dem Atem des Wassers zu, ich notiere alles.


Auszug aus Ruminationen von Michael Lentz:

Wenn Gott in den Buchstaben wohnt, die Tora der Name Gottes ist und folglich die Buchstaben seine sicht- und hörbaren Stellvertreter sind, und die laut auszusprechenden Buchstaben, in eine bestimmte Reihenfolge gebracht, den rufend Lesenden mit Gott vereinigen, indem Gott als Buchstaben über die Stimmbänder in Schwingungen gebracht wird, und diese Schwingungen sich in der Luft übertragen von Mund zu Ohr, so wird Gott übertragen, triffst du nur das Zauberwort. Manche aber treffen nicht das Zauberwort, sondern nur die Kehle oder den Nacken, und die Verbindung zu Gott wird nicht intensiver durch lautes Rufen der Buchstaben, die in ihrer Reihenfolge Gott bedeuten und seine Größe rühmen, sondern das laute Anrufen Gottes übertönt das eigene Gewissen, in dem Gott ist, der verstummen soll, und berauscht/betäubt den Mörder. Die Tötung wird im Gott anrufenden Akt der Tötung an Gott delegiert. Gott ist so groß, dass er die Tötung als Opfer annimmt und in der Annahme den Mörder exkulpiert. Was aber, wenn der Falsche getötet wurde? Der Tötende handelt in der Überzeugung, Gott habe ihm den Richtigen gewiesen.